Internationale Kulturtage Mare Balticum vom 10.-12. November 2023 in Darmstadt
Acht Vorträge und über 80 Besucher, darunter auch etliche Gäste aus dem Baltikum, beschäftigten sich diesmal mit dem Thema „Baltische Utopien, Pläne, Philosophien“, das mit der Frage eingeleitet wurde: „Wo ist der Weg zum Land des Glücks?“
Manche Utopien bleiben lange in den Köpfen, auch wenn sie nie verwirklicht wurden. So feierten bis vor wenigen Jahren auf der Karibik-Insel Tobago Letten die Versuche des deutschbaltischen Herzogs Jakob, dort vor fast 400 Jahren eine kurländische Kolonie zu errichten. Lettische Nationalisten hatten schon im 20. Jahrhundert versucht, Lettland als historische Kolonialmacht darzustellen, da ja wohl ihre Landsleute an Jakobs Unternehmen maßgeblich teilgenommen hatten. Bei den Internationalen Kulturtagen Mare Balticum legte Dr. Martin Pabst jedoch dar, dass dies nicht zutraf und die Kolonialpläne ein Traum blieben.
Zu den geographischen Fiktionen und Wunschbildern gehört das Sannikow-Land im Nordpolarmeer, das der Rigenser Mathias von Hedenström gesichtet haben wollte, als seine Expedition 1810 die Neusibirischen Inseln vermessen sollte. Das passte zu der damals verbreiteten Vorstellung, eine Halbinsel reiche vom amerikanischen Kontinent bis vor Sibirien, wie der estnische Historiker und Geograph Dr. Erik Tammiksaar darlegte.
Eine Utopie blieb das Herzogtum Kurland und Semgallen, das der von Deutschbalten gebildete Landesrat am 8. März 1918 proklamierte – verbunden mit der Bitte an den deutschen Kaiser Wilhelm II., „für sich und seine Nachfolger die Herzogskrone Kurlands“ anzunehmen. Der neue Staat wurde von keinem anderen anerkannt, ebenso wenig wie das kurz vor der deutschen Kapitulation gebildete Vereinigte Baltische Herzogtum. Es gab viele Versuche, die Vorherrschaft der Deutschen im heutigen Lettland und Estland auch nach dem Untergang des Zarentums zu sichern. Dies, so Robert Samuel Langner von der Universität Glasgow, scheiterte vor allem an der mangelnden Koordination zwischen Akteuren wie dem deutschen Auswärtigen Amt, der Obersten Heeresleitung und der Baltischen Ritterschaft.
Weil sie von der sowjetischen Führung gelenkt war und Terror verbreitete, scheiterte der Versuch einer Republik Sowjetlettland unter Präsident Pēteris Stučka. Am 17. Dezember 1918 wurde das kommunistische Experiment in Riga ausgerufen. Statt das Agrarland zu verteilen, wurden meist Kolchosen gegründet, die lettischen Kleinbauern erhielten nur einjährige Pachtverträge, berichtete der Politikwissenschaftler Dr. des. Ron Hellfritzsch. Wegen des Exports von Lebensmitteln nach Russland herrschte bald Hungersnot. Das Regime versuchte, sein Macht durch Verfolgung von zu Feinden erklärten Gruppen aufrechtzuerhalten. Im April wurden die deutschbaltischen Barone quasi für vogelfrei erklärt, auf der Insel Hasenholm in Riga entstand ein Konzentrationslager. Nach der Befreiung Rigas durch die Landeswehr floh die Regierung Stučka nach Lettgallen, nach dem lettisch-russischen Friedensvertrag vom 11. August 1920 nach Moskau. Dort wurden viele führende lettische Kommunisten 1938 nach Schauprozessen hingerichtet.
Das Postulat einer harmonischen Gesellschaft habe der baltische Rechtswissenschaftler Valentin Tomberg vertreten, erläuterte der Historiker Dr. Thomas Emons. Tomberg hatte frühzeitig Kontakt mit den Anthroposophen und beschäftigte sich beim Abendstudium nach 1920 in Tallinn mit vergleichenden Religionswissenschaften. Zehn Jahre später berichtete er von einem spirituellen Erlebnis, das ihn befähige, die Welt der Engel wahrzunehmen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Weil ihm die Lehre Rudolf Steiners zu autoritär erschien, verließ er die Anthroposophische Gesellschaft, konvertierte später zur orthodoxen, dann zur römisch-katholischen Kirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Tomberg in Mühlheim an der Ruhr. An der Universität Köln promovierte er und legte Schriften zur Rechtsphilosophie und zum Völkerrecht vor. Er forderte eine internationale Friedensordnung. Die Einhaltung der unveräußerlichen Menschenrechte sei möglich, wenn jeder eine theologisch-philosophische Ausbildung erhielte. Seine letzten Jahre verbrachte Tomberg, der jeden Tag die Messe besucht haben soll, in London.
Dass man die Welt der Sagen verfälschen kann, zeigte Dr. Māra Grudule, Professorin an der Universität Riga, am Beispiel von Hanny Brentano auf. Diese Tochter eines deutschbaltischen Gutsverwalters arbeitete als Lehrerin in Libau, zog nach der Heirat 1905 nach Wien, konvertierte als Witwe zum Katholizismus und starb 1940 als Ordensfrau in Salzburg. Sie veröffentlichte zahlreiche Schriften, so ein „Lehrbuch der lettischen Sprache zum Selbstunterricht“ (Wien, 1907). 1910 erschien in Regensburg „ Aus dem Baltenlande: Erzählungen und Skizzen nach lettischen Motiven“. Dabei wich sie von den originalen Erzählungen der Letten erheblich ab. So veränderte sie lettische Namen in deutsche, ließ einen Sterbenden, der sich in der Ursprungserzählung, ohne religiösen Bezug, vollkommen frei fühlt, plötzlich Engel sehen und erfindet ein Happyend zwischen Liebenden, obwohl im Original der Verliebte zugunsten seines Freundes verzichtet. Mit der baltischen Sagenwelt hat sich die Autorin nach vernichtenden Kritiken, unter anderem in den Rigaer Neuesten Nachrichten, nicht mehr beschäftigt.
Stark konzentrieren mussten sich die Zuhörer bei „baltic sea dub – word-music with video“, das Tone Avenstroup und Torsten Beckmann aus Berlin boten. Mit „dub“ bezeichnet man in der Musik vielfach eine Produktionsweise, die mit weiten Hallräumen und Echoverzögerungen arbeitet. Das Mischpult ist sozusagen wichtiger Bestandteil des Teams. So waren im Baltenhaus in Darmstadt Klänge zu hören, die manchen an die langgezogenen Gesänge der Samen in Skandinavien erinnerten. Dazwischen Wörter und Halbsätze in Norwegisch und Deutsch, manchmal harmlos in der Wortbedeutung, oft bedrohlich wie „Magma unter den Füßen“, „Am Horizont ist nichts“. Die Musik wirkte düster und in diese Darbietung von Disharmonischem passte das Video, das den Versuch zeigte, auf einem Blatt Papier mit beiden Händen gleichzeitig das gleiche zu zeichnen. Ob Linie, Kreise oder gegeneinander liegende Halbkreise – das Ergebnis war stets krakelig, disharmonisch.
Amüsiert nahm das Publikum die Präsentation der Mikronation Užupis zur Kenntnis. „Außenminister“ Tomas Čepaitis und „Botschafter“ Ilia Kitup schilderten den Alltag in dem zumeist von Künstlern bewohnten Stadtteil der litauischen Hauptstadt Vilnius als von jeder Obrigkeit befreit, friedlich, solidarisch und von zahlreichen künstlerischen Projekten geprägt. Immerhin 7000 Menschen leben auf dem einen halben Quadratkilometer großem Gebiet, das seit 1997 jedes Jahr seine Unabhängigkeit feiert, am 1. April.
Mit der Vorstellung von Užupis endeten zweieinhalb Tage, die von intensivem Austausch und vielfältigen Kontakten geprägt waren. Zu danken ist dem Deutschen Kulturforum östliches Europa für die Mitarbeit sowie für die großzügige finanzielle Unterstützung der Kulturbeauftragten der Bundesrepublik und Hessens Ministerium des Innern und für Sport.
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