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Göttlich, vornehm, volksnah

Internationale Kulturtage Mare Balticum vom 15. - 17. November 2024 in Darmstadt


Wo Völker völlig unterschiedlicher Sprachen miteinander leben, herrscht nicht automatisch das linguale Chaos. Man kann voneinander lernen, Wörter übernehmen, die Lautmalerei der Anderen bestaunen. Dies machten die Referenten der Internationalen Kulturtage Mare Balticum in Darmstadt deutlich. „Im Labyrinth der Wörter – Sprache(n) im Baltikum“ lautete der ein bisschen warnende Titel.

Dass Sprache sich stetig ändert und Wörter verschieden gedeutet werden können, darauf wies Andreas Hansen, Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Gesellschaft, in seiner Einleitung hin. Sprache existiere ja in ihrem Ablauf. Schon das oft Gesagte werde von jedem etwas anders weitergegeben. Bei politischen Repressionen würden Geheimsprachen entwickelt, Gedichte müsse man auch zwischen den Zeilen lesen.

Die Rolle der Übersetzer sollte nicht unterschätzt werden, hob Dr. Maximilian Murmann (München) hervor, der seit 21 Jahren finnische und estländische Literatur ins Deutsche übersetzt. In Estland gebe es nur zwei Menschen, die von einer solchen Tätigkeit leben



könnten. Den ausländischen Verlagen komme eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung estnischer Texte zu, denn Verlage in Estland seien nur klein und hätten geringe Geldmittel. Allerdings würden 3,5 Prozent der Tabak- und Alkoholsteuer für Literaturförderung verwendet.

Weder Estnisch, noch Lettisch noch Deutsch waren gefragt, wenn es darum ging, die Zugehörigkeit zum Adel und zu kultureller Höherwertigkeit zu demonstrieren. Französisch war Pflichtfach für Söhne und Töchter aus adeligem Hause, wie Dr. Anja Wilhelmi vom Nordost-Institut in Lüneburg in ihrem Referat „Parceque moi je suis une ˏdeˋ et vous ne l´êtes pas!“ darlegte. Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert war Französisch die dominierende Fremdsprache. Sie zu vermitteln war Aufgabe der Mütter oder Gouvernanten.

In diesen Kreisen sprach man auch untereinander bei Gesellschaften auch französisch, schon um den Zugang zu adeligen Netzwerken zu sichern und die eigene familiäre Herkunft zu unterstreichen. Das galt auch am Zarenhof. Der Erwerb der russischen Sprache war vor allem beruflichen Gründen geschuldet und ist nicht als ständisches Signum zu werten.

Anja Wilhelmi belegte ihre Darstellung mit vielen Beispielen deutschbaltischer Adeliger. So schreibt Ernestine von Campenhausen, später verheiratete Schultz-Ascheraden, 1810 geboren, in ihren Erinnerungen über ihre Spracherziehung und die Sprachtradition ihrer Mutter und Großmutter: „An lebenden Sprachen dachte man nicht wie jetzt, russisch zu lernen fiel niemand ein, und das französische war ihnen wie die zweite Muttersprache. Wenn Großmama lebhaft war, gerieth sie immer da hinein.“

Sophie von Hahn amüsierte sich über die fehlerhafte Aussprache des Französischen von Mitgliedern des kurländischen Landadels. Ihr Vater stammt aus französischem, die Mutter aus preußischem Adel. Sie hatte den späteren Zivilgouverneur Kurlands und Livlands, Paul Baron von Hahn (1793–1862) geheiratet und war von ihrer herausragenden Kompetenz in Wort und Schrift des Französischen so überzeugt, dass sie die offizielle Korrespondenz ihres Mannes mit dem Zarenhof gegenlas und korrigierte.

 „Estnisch als Göttersprache“ war der Titel des Vortrags von Prof. Dr. Jaan Undusk aus Tallinn. Dies beruht auf einer Sage, die der estnische Schriftsteller Friedrich Robert Faehlmann (1798 – 1850) niedergeschrieben hat. Der Erzählung zufolge kocht Gott in einem Kessel über dem Feuer Wasser. Daraus steigen Töne empor, die sollen sich die Völker der Reihe nach abholen. Die Deutschen kommen so spät, dass der Kessel wieder aufgewärmt werden muss und daraus ertönt: „Deitsch! Peitsch!“ Damit soll die deutsche Oberherrschaft angeprangert werden. Für Letten und  Russen bleiben nur Zischlaute. Die Esten aber kamen zu früh. Das Wasser kochte noch gar nicht, so sprach Gott: „Dann bekommt ihr meine eigene Sprache“.

Deutsch ist keine sogenannte Ortssprache mehr, aber in Lettland und Estland noch präsent und wird positiv gesehen. So das Fazit von Dr. Heiko Marten (Mannheim/Berlin), der die Rolle der deutschen Sprache im heutigen Baltikum erläuterte. Deutsch sei eine „Adoptivsprache“, viele Menschen in Führungspositionen in Wirtschaft, Kultur und Politik im Baltikum sprächen auch Deutsch. Bei einer Umfrage der lettischen Sprachagentur vor zehn Jahren gaben 23 Prozent der Menschen mit Lettisch als Muttersprache an, dass sie zumindest Grundkenntnisse im Deutschen hatten. Damit lag Deutsch zwar deutlich hinter Englisch, aber vor allen anderen Sprachen.  

Die Langlebigkeit deutschbaltischer Ausdrücke zeigte Prof. Dr. Reet Bender (Tartu) auf. So hätten Deutschbalten mit „Doktorat“ das Wohnhaus eines Arztes bezeichnet. Im Lettischen bedeute heute „centrs doctorats“ eine Arztpraxis. Bender hatte 2023 zusammen mit Anne Arold, Ineta Balode und Dzintra Lele-Rozentāle als Forschungsgruppe „Die deutsche Sprache im Baltikum“ den Kulturpreis der Deutsch-Baltischen Gesellschaft erhalten. Auf der Grundlage umfangreicher Vorarbeiten erarbeitet die Abteilung Germanistik der Universität Tartu seit 2009 ein Deutschbaltisch-Deutsch-Estnisch-Lettisches Wörterbuch, das online abrufbar ist und bereits 40.000 Wortartikel umfasst. 

Die lettische Sprache braucht einen verzauberten Wald ohne Unrat, stellte Matthias Knoll fest. Der Berliner ist wohl prädestiniert für die Charakterisierung lettischer Lyrik, hat er doch an die 2000 Gedichte dieses Volkes übersetzt, wofür ihm der Drei-Sterne-Orden der Republik verliehen wurde. Er hat bisher sieben eigene Gedichtbände veröffentlicht und von seinem dritten Beruf, Rezitator, gab er eindrucksvoll Beispiele in Darmstadt.

Seit 2001 veranstaltet Knoll die „LiteraTour durch Riga“, eine Führung in Altstadtgassen und Parks, auf Hinterhöfen, Plätzen und Brücken, bei der passend zur jeweiligen Stadtansicht Gedichte sowie Dramen- und Prosafragmente lettischer Autoren in deutscher Übersetzung durch eine Anmoderation erschlossen und sodann rezitiert werden. Auf diese Weise soll den Besuchern die literarische Dimension des lettischen Kulturraumes eröffnet werden.

Im Dienste nationaler Emanzipation stand die estnische Zeitschrift „Meelejahutaja“ nach Ansicht von Prof. Dr. Maris Saagpakk, außerordentliche Professorin für deutsche Kultur- und Literaturwissenschaften an der Universität Tallinn. Das Blatt erschien 1878 – 1883 in Tartu, zuletzt wöchentlich. Herausgeber war der aus Lübeck stammende Verleger Heinrich Laakmann.

Meelejahutaja bedeutet „Geist-Erfrischer“. Ziel der Initiatoren war die Bildung des Publikums, die Lenkung literarischer Vorlieben und das Angebot einer Plattform für junge Autoren. Viele Beiträge waren Übersetzungen, zumeist aus dem Deutschen. Deutsch galt als Sprache der Gebildeten. Dadurch erhoffte man sich, zu einer in Europa gleichberechtigten Kulturnation zu werden, so Saagpakk. Die Erweiterung des Horizonts auch der ländlichen Bevölkerung sollte allerdings nicht im Sinne der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erfolgen, sondern diese korrigieren. Genügsamkeit und fromme Lebensweise sollten vermittelt werden. Entsprechend war das literarische Angebot in Meelejahutaja: sentimentale Heiligengeschichten, Robinsonaden, Missionsliteratur als „Stories“, Fabeln, Lyrikübersetzungen unter anderem von Schiller, Goethe, Eichendorff, Räubergeschichten im Stil „Rinaldo Rinaldinis“.

Die Entwicklung der deutschen Sprache im Baltikum und die Wechselbeziehungen zum Lettischen beleuchteten Ineta Balode und Dzintra Lele-Rozentāle. Die beiden Rigenser Professorinnen arbeiten an einem Buch über die Sprachgeschichte der Deutschen im Baltikum. Der erste bekannte Deutsche, der die Sprache der Letten beherrschte, war der Chronist Heinrich von Lettland, der 1205 eine Theateraufführung für die Einheimischen dolmetschte. 1432 sagte ein Priester als Zeuge vor Gericht aus, dass er Kurisch spreche.

Die Deutschen im Baltikum sprachen zumeist Mittelniederdeutsch. So ist in einer Schrift um 1550 von der „verborung der perde“ die Rede. Erst 100 Jahre später wird daraus „verlust der Pferde“.

Auch nachdem sich das Hochdeutsche durchgesetzt hatte, verwendeten die Deutschbalten noch viele Begriffe aus dem Russischen (Tramawoi, Blini, Barawick) Französischen (der Dejour) und aus dem Lettischen (Gailing, Knagge). Übernommen wurden auch lettische Satzstrukturen: „Passen Sie die Kinder auf“. Neben der besonderen Klangfarbe des baltischen Deutsch war ein herausragendes Merkmal die Verwendung des Diminutivs. Guido Eckardt erwähnt 1904 in der „Baltischen Monatsschrift“: Tanting, Sohning, Tochting, Süßing, Kleining, Pupping.

Es gab auch „Spielarten“ des Deutschen im Baltikum. So bezeichnete man als „Kleindeutsch“ den Jargon der Deutschen aus den unteren sozialen Schichten. Hauptgestalt ist Schanno/Jeannot von Dinakant. Im „Rigaschen Wörterbuch“ von 1913 werden 60 Wortentlehnungen aus dem lettischen und 150 aus dem Russischen aufgezählt. „Halbdeutsch“ war die Sprache von Letten und Esten, die, wie die sogenannten Švauksts, durch Gebrauch des Deutschen etwas Besseres darstellen wollten, diese Sprache aber nicht im Unterricht, sondern nur nur im täglichen Umgang gelernt hatten und sie daher nur in der Art von Pidgin-Englisch nutzen konnten.

Für die Unterstützung der Internationalen Kulturtage Mare Balticum dankt die Deutsch-Baltische Gesellschaft der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Hessischen Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. 

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