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Balten – Täter und Opfer. Internationale Kulturtage Mare Balticum 2022

Dass im Baltikum im Laufe der Jahrhunderte fast alle Völker und Volksgruppen leiden mussten, weil Fehlverhalten und Vorurteile

Groß war das Interesse an den Referaten bei den Internationalen Kulturtagen Mare Balticum im Baltenhaus in Darmstadt. Foto: Christian Toop

Rachezüge verursachten, führten die Referenten der Internationalen Kulturtage Mare Balticum, unter dem Thema „Böse Balten?“, in Darmstadt vor Augen. Die Widersprüche dabei zeigte Andreas Hansen, Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Gesellschaft, schon in seiner Einleitung auf. So stellte Meyers Konversations-Lexikon 1894 die Esten als „berüchtigste Seeräuber der Ostsee“ dar, erwähnte in der Ausgabe von 1905 aber immerhin 600 Jahre Unterdrückung. Adam von Bremen nannte die Kuren einen blutgierigen Menschenschlag, Johann Gottfried Herder lobte 1765 die poetische Kraft der lettischen Volksdichtung.

Einen Unhold, der auch Gutes tat, schildert das 1862 erstmals gedruckte estnische Nationalepos Kalevipoeg. Allerdings, so der Finnougrist Prof. Dr. Cornelius Hasselblatt beruht nur ein Achtel der gut 19.000 Verse auf originaler Volksdichtung. Den Rest habe der estnische Schriftsteller Friedrich Reinhold Kreutzwald auf Basis verschiedener Sagen um den Riesen Kalevipoeg selbst geschrieben. Dieser wirft gigantische Steine nach seinen Gegnern, hilft aber auch Menschen in der Not. Kalevipoeg wird von seinem von ihm selbstverfluchten Schwert tödlich verletzt und bewacht bis heute das Höllentor, damit der Teufel nicht herauskommt.

Zwei Seiten zeigte auch der Deutschbalte Roman Baron von Ungern-Sternberg. So bereiste er die Mongolei intensiv, besuchte viele Klöster, legte Wert auf Kontakt mit einfachen Menschen, lernte die Sprache, schilderte der freie Journalist Ernst von Waldenfels den auch als „blutigen weißen Baron“ apostrophierten Adeligen. Dieser half mit seiner Truppe 1920 dem höchsten Lama der Mongolei gegen die Kommunisten und rief eine unabhängige Monarchie aus. In den Kämpfen soll er gefangene Juden und Bolschwewiken ermordet und Plünderungen befohlen haben. Seine eigenen Leute verrieten ihn an die Kommunisten, die ihn nach kurzem Prozess erschossen.

Über ihren Großvater Herbert Bernsdorff berichtete Dr. Uta von Arnim. Der gebürtige Rigenser Arzt ging 1941 wieder nach Riga als Organisator des Gesundheitswesens in der Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland. Ihm unterstand auch ein Labor im Gut Kleistenhof für die Forschung zur Bekämpfung von Fleckfieber. Dabei wurden Experimente mit Läusen an Gefangene aus dem Ghetto unternommen, obwohl es bereits einen Impfstoff gegen Fleckfieber gab, betonte Uta von Arnim.

Die Biographien von 22 Deutschbalten, die mit dem NS-Regime zusammenarbeiteten, hat Dr. Igor Barinov durchforscht. Viele waren für die Reichsverwaltung als „Ostexperten“ tätig. Laut Barinov waren die Betroffenen im Durchschnitt 30 bis 45 Jahre alt, deutschnational gesinnt, ausgebildete Juristen und Volkswirtschaftler. Da die Mehrheit politisch nicht aktiv war, konnten etliche ihre Tätigkeit als Experten für Osteuropa auch in Ministerien der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen.

Die Verschleppung der Deutschbalten nach Sibirien skizzierte Prof. Dr. Olev Liivik anhand eines Tagebuchs, das erst vor einigen Jahren aufgefunden worden war. Es gehörte Georg Heitmann. Seine Mutter war Estin, seine Frau Russin. Im August 1945 wurde er zusammen mit 400 anderen Menschen, meist Deutschbalten, von den Russen nach Sibirien verschleppt. Zwar konnte er von dort nach Tallinn fliehen und sich bei seiner Familie verstecken, wurde aber verraten und erneut verbannt. Kurz vor seiner Rückkehr starb er 1955. Von 1945 bis 1947 führt er Tagebuch. Auf den 600 Seiten machte er mit Bleistift Notizen vom Alltagsleben, vom Wetter und seinen Krankheiten.

Als Auswirkungen der oft düsteren Zeiten auf die Psyche der Menschen kann man die Filme des litauischen Regisseurs Sarunas Bartas betrachten, die Nele Saß in Ausschnitten vorstellte. „Drei Tage“ von 1991 schildert den Ausflug zweier junger Litauer vom Lande nach Kaliningrad, wo sie vergeblich versuchen sich auszuleben. „In der Dämmerung“ schildert das entbehrungsreiche Leben von Waldbrüdern in Litauen, Partisanen gegen die Rote Armee nach 1945. Die Filme haben eine düstere Stimmung, gesprochen wird kaum, dafür gibt es unendlich lange Einstellungen von Gesichtern, halbzerstörten Gebäuden, fast leeren Örtlichkeiten.

Mit der aktuellen Situation in ihren Ländern befassten sich Kaspars Adijans von der lettischen Botschaft und Gesandter Kalvi Noormägi von der estnischen Vertretung in Berlin. Adijans warb dafür, bei der Diskussion um den Krieg in der Ukraine auf die Wortwahl zu achten. Es sei nicht Putins Krieg, denn einer allein könne nicht Krieg führen. „Pro-russische Verwaltung“ impliziere einen Bürgerkrieg, es handle sich aber um einen Angriffskrieg der Russen. Sein Land verlasse sich auf die NATO, da man begriffen habe, dass in der Ukraine auch die Freiheit Europas verteidigt werde, stellte Noormägi fest. Es gebe kein politisches „Niemandsland“ zwischen NATO und Russland. Auch deshalb sei es unstatthaft, freie Staaten der Einflusssphäre eines anderen Landes zuzuschreiben.

Für die Unterstützung der Internationalen Kulturtage Mare Balticum dankt die Deutsch-Baltische Gesellschaft der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.

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